Karl Jakob Hirsch
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Zweiter Teil
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Sonntagsfahrt
Luise Tölle sah noch einige Sommer, in denen sie still und im Bewußtsein, daß alles bald zu Ende sey am Fenster saß und die Menschen lärmen und hasten sah. Einige Winter, in denen sie die Kohlen vom Keller heraufschleppte, wenn Tölle auch schimpfte und der kleine Berni mithalf. Sie sah noch einige Frühlinge mit Sturm, Regen und zaghafter Sonnenwärme; die gelben Herbstblätter in der Herrenhäuser Allee tanzten noch einige Male um ihre müden Füße, dann legte sie sich hin und stand nicht wieder auf.Sie wurde ins Krankenhaus in der Haltenhoffstraße gebracht, sie wurde untersucht und beklopft, aber es war zu spät. Sie hatte Schrumpfniere. Sie starb an einem dunklen Novembertage, als die Sonne gar nicht aufgehen wollte, sie entschlummerte still und machte niemandem Arbeit, wie das so ihre Art war. Selbst die Krankenschwester war nicht im Zimmer, ganz allein und etwas verwundert, daß das so einfach ist, starb Mutter Luise. Sie wurde von ihrem Mann und dem kleinen Bernhard beweint, auf dem Stöckener Friedhof begraben und ließ ihre Familie etwas ratlos zurück, denn Emanuel war ein unpraktischer Mensch und Berni erst sechzehn Jahre alt. Vater Tölles Gemüt lockerte sich mit den Jahren, er wurde gleichsam jünger und lebenshungriger, aber das war schwer mit väterlicher Würde und Strenge vereinbar. Bernhard nahm sich viel Freiheit heraus, viel mehr, als Emanuel in der Jugend jemals hatte; aber was sollte er machen? Freunde hatte der Briefträger genug, Rat war immer billig, aber in Wirklichkeit tat Berni, was er wollte, und Emanuel ging auch seiner Wege.Noch in den letzten Lebenstagen Luisens hatte Berni ihm Kummer gemacht, als er mit ihm auf dem Rückweg vom Krankenhaus bei Voges eingekehrt war und dort mit gedämpfter Freude begrüßt wurde.Emanuel erzählte von Luisens Krankheit.Siehste, Voges... da merkste elf Jahre überhaupt nichts ... und dann mit einem Male... dann ist's zu spät.“An jenem Tag also verschwand Berni plötzlich und wurde später von Vater Tölle, der mal wohin gehen mußte, in einem dunklen Zimmer, das leer stand bis auf ein altes grünes Sofa, entdeckt. Und zwar in Gesellschaft der strammen und drallen Minna. Die Überraschung war groß. Berni wurde frech, trotz seines unordentlichen Aufzuges, Minna schnauzte den Briefträger an: Sei du man ganz stille.“Der September war mächtig heiß, als Hermann Wendelken und Gesine Geffken ihren Vater ins Altersheim brachten. Thaler hatte die Mühle schließlich auf eigene Rechnung gekauft, ein unsinniges Geschäft übrigens, da Moritz Thaler doch gar nichts mit einer Mühle anfangen konnte. Wer kaufte denn altmodische Windmühlen? Das konnte nur dem schlauen Thaler passieren.Der alte Geffken wehrte sich: Ich geh nicht da raus ... nur mit den Beinen voran ...“ Schließlich ging er doch. Er war verfallen und fluchte. Hermann und Gesine brachten ihn nach Hannover. Das hatte Moritz auch bezahlen müssen. Den Alten hatten sie abgeliefert, sie bummelten erleichtert und vergnügt Arm in Arm die Georgstraße hinunter. Wen trafen sie an der Ecke Langelaube? Den Briefträger Tölle.Hallo... Tölle... Mensch ... wohin?“ Tölle war erfreut und schlug vor, zusammen zum Benther Berg zu fahren. Er kannte Gesine noch nicht und wurde angeregt.Nun zog man los, drängte sich in der Elektrischen und war sehr vergnügt. Was macht denn deine Frau ... Tölle?“ fragte Hermann. – Die ist doch gestorben, Hermann... vor einem Jahr. Habe ich's dir nicht geschrieben?“ – Tja... Emanuel... das tut mir leid, dreimal Benther Berg... laß man, Tölle... so, danke.“Die trübe Stimmung hielt nicht lange an.Dann ging man auf den Berg, Gesine und Tölle nebeneinander.Also Fräulein, Sie wollen jetzt dem Hermann helfen in dem Hotel? Na, ich besuch euch mal, ich komm mal da rauf.“Aber Emanuel dachte an etwas anderes. Er dachte ernsthaft daran, sich zu verändern oder sogar wieder zu heiraten. Bernhard kam ja bald aus der Schule, kam in die Lehre, eigentlich sollte der Bengel Ingenieur werden, aber das Geld langte wohl nicht. Geld, Geld und immer wieder Geld, das ist die Welt, denkt Tölle, und dabei denkt er an noch etwas anderes. Wie Luise starb und daß es so schwer war die erste Zeit mit dem Bengel allein zu Hause, der schon zu erwachsen war und höllisch aufpaßte, was der Vater trieb. Marahrens lud ihn oft ein: Komm man, Emanuel, du mußt doch ein bißchen Abwechslung haben, so ganz alleine.“Er dachte: wer weiß denn eigentlich von meinen Sachen, von den Nachmittagen bei Schmidtchen? Solange Muttern noch gesund war, hab ich's ja nicht getan. Ich bin ja schließlich noch kein Krüppel mit meinen sechsundvierzig Jahren.Eigentlich interessierten ihn nur die jungen Dinger, so die Zwölfjährigen, wo noch alles unentwickelt war, so dösige alberne Gänschen, da war er hinterher. Die Töchterschule in der Langensalza-Straße war sein beliebtes Spaziergangsziel.Nun fuhr man also zum Benther Berg, am Sonntag, im September, es war noch sehr schwül. Das Lokal war voll, alle Tische besetzt. Hermann als Fachmann organisierte.Nun wartet mal hier, ich spreche mit dem Wirt.“ Er verschwand. Tölle und Gesine standen an der Barriere, dahinter war die Tanzfläche.Wie gefällt Ihnen das?“ meinte Emanuel.Ach, gut... en bißchen voll...“Na, wollen wir mal versuchen?“Tölle faßte Gesine um die Taille und walzte los. Die Musik spielte den neuesten Schlager, den Walzer aus der ‚Lustigen Witwe‘.Kennen Sie das, Frollein?“Woher soll ich das kennen?... Nee... warten Sie mal... nee, ich weiß doch nicht.“Das ist die ‚Lustige Witwe‘, Frollein Geffken, die müssen Sie mal sehen im Mellini-Theater, aber fein ...!“Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja selbst Witwer ist, lustiger Witwer, das ist ihm etwas peinlich. Er spricht nicht mehr darüber. Ein festes Mädchen, die Gesine, denkt er, soll die nicht verlobt sein? Hermann, der Herzensbrecher, hat da wieder mal was angerichtet, was?Sie sind doch verlobt, Frollein, nicht wahr?“ Gott, ja . . . mit Herrn Cohrs, der ist Stationsbeamter bei uns.“In diesem Augenblick dachte Gesine wirklich an Cohrs, es kam nicht oft vor. Cohrs war sehr unglücklich, Gesine hatte ihn in den letzten Wochen zu schlecht behandelt. Der gute Cohrs war manchmal tagelang schwermütig. Alle rieten ihm, die Gesine laufenzulassen. Er tat es aber nicht.Emanuel wurde ganz aufgeräumt, neben ihm tanzte ein junges Ding. Die walzte mit einem Soldaten und guckte immer zu Tölle hinüber. Emanuel fühlte sich, guckte zurück, dabei preßte er Gesine an sich, meinte aber die andere. Der Walzer war zu Ende. Hermann hatte mit Autorität und Nachdruck einen Tisch verschafft. Der Zufall wollte es, daß gerade am Nebentisch das Gänschen mit dem Soldaten saß. Tölle war sehr vergnügt, den nächsten Tanz machte er mit der Kleinen, mit Anni Staufenbiel, der Tochter des Stadtreisenden Willi Staufenbiel aus der Osterstraße.Anni und Emanuel verstanden sich sofort; sie konnte schon gut mit Männern umgehen, und er sah in ihrem Frätzchen die ganze dumme Süße der Jugend, die er so liebte. Anni war das einzige Kind und auf den Tag siebzehn Jahre alt. Das erzählte sie strahlend. Übrigens sah sie etwas älter aus, hatte schon entwickelte Brüste und Taille. Auch trug sie ziemlich lange Röcke. Emanuel schleppte sie mit an den Tisch, da der Soldat verschwunden war. Gesine machte Stielaugen über das ungleiche Paar, denn neben Anni sah Emanuel etwas alt aus.Na... Frollein ... ein Bier gefällig?“ fragte Tölle. Aber Hermann, der Kavalier, sagte: Bier is nich... Wein ... mal die Karte!“Der Wein hieß Liebfrauenmilch und hatte auch Ähnlichkeit damit. Aber wenn man, wie Tölle, dazwischen ab und zu einen Kognak kippt, dann ist es ja auch egal. Er wurde wild, als er Hermann mit Anni tanzen sah.Die Stimmung im Lokal war schon auf dem Höhepunkt, als Tölle mit Anni mal Luft schnappen“ ging. Das dauerte sehr lange, ungefähr eine Stunde, sie gingen die Wiese hinunter, dem Wald zu, und waren in Gesellschaft. Überall saßen und lagen Pärchen, Tölle meinte, das wäre ja ein Skandal, und lachte. Anni trippelte neben ihm her. Schließlich kam die Lichtung, und man sah von hier die Lichter der Stadt. Sehen Sie mal, Frollein Anni... wie schön.“ Anni fand das auch. Aber noch besser war die dunkle Stelle im Walde, die zwar etwas feucht, aber sehr bequem war. Es roch nach Pilzen. Champignon“, meinte Emanuel, während Anni auf irgend so 'n Giftpilz“ riet. Das war ja auch egal. Es war belanglos und gleichgültig neben der Tatsache, daß Emanuel seine Arme um Anni gelegt hatte und sein Mund den ihren berührte. Das kitzelt“, lachte Anni, aber gewöhnte sich rasch. Emanuel benahm sich sehr ungeschickt, er war aufgeregt und streichelte unaufhörlich Annis Gesicht, dann versuchte er, die Brüste zu berühren. Du hast ja kein Korsett an!“ sagte er erstaunt und fühlte die zärtliche Haut, roch das Parfüm und die betäubende Ausdünstung ihres Körpers.Er seufzte und stöhnte. Das war etwas anderes als Schmidtchen, dies verdorbene Ding, bei der er nur ein hastiges und unvollkommenes Vergnügen empfand. Ob sie noch Jungfrau war? Er zitterte, er schwitzte, er verzweifelte. Er fing an zu plappern. Seine Wünsche überstürzten sich. Anni war etwas verwundert, sie hatte schon einiges erlebt, nahm es aber nicht so wichtig. Und dieser ältere Mann da benahm sich so ungeschickt. Es war ja nett, nach dem jungen Gemüse“ mal einen richtigen Mann, einen stattlichen und erwachsenen Mann zu haben, aber der da fing am Ende an zu weinen. Da wurde Emanuel plötzlich böse, packte sie, schüttelte sie und benahm sich wie ein Verrückter, Anni sprang auf. Na... dann nich“, sagte sie. Sie wollte davonlaufen, aber Tölle hielt sie fest. Er sagte, sie müsse entschuldigen, er könne wohl den Wein nicht vertragen. Er wurde ganz nett.Sie ging wieder mit ihm in den Saal zurück. Der Tisch, an dem Hermann und Gesine gesessen hatten, war leer. Da saßen Fremde. Tölle war es unangenehm, er brummte was von Unverschämtheit. Er müsse den Hermann suchen, sagte er zu Anni. Die fand auch ihren Soldaten wieder, sagte vorher Emanuel noch schnell ihre Adresse und verschwand. Tölle irrte im Lokal umher, nichts machte ihm Spaß, die Adresse der Anni schrieb er sich in sein Dienstbuch, die konnte er mal wiedersehen. Im übrigen sehnte er sich nach Hermann, mit dem er was besprechen wollte. Er fand ihn ziemlich betrunken mit einigen andern an der Theke.Na... du Lustgreis...“, schrie Hermann. Tölle wehrte ab, sah aber den Grad der Besoffenheit und entschloß sich mitzumachen. Wo Gesine war, wußte Hermann nicht. Die geht schon nicht verloren“, meinte er. Um zwölf Uhr kam sie an, etwas zerdrückt und erhitzt. Hermann bestellte ihr ein Bier, um ein Uhr gingen sie zur Straßenbahn.Es war die letzte. Man mußte auf der Plattform stehen. Fast alle waren betrunken. Der Schaffner kannte diese Fuhre, die Hauptsache war, daß er sein Geld bekam. Das war manchmal nicht so leicht. In Badenstedt wäre Tölle beinahe hinausgefallen, da ein Mann aussteigen wollte. Am Schwarzen Bär“ stiegen noch einige hinzu, trotzdem wenig Platz war, neben Tölle stand ein Mädchen mit einem Soldat, die knutschten sich. Emanuel sah, daß es Anni war. Er war sehr unglücklich und eingeklemmt in den Menschen. Er schubste und stieß, erregte Unwillen. Na, mach man nich so 'n Theater... Onkel“, sagte eine. – Austreten gibt's nich...“, brüllte ein junger Mann. Man lachte. Am Steintor mußte alles raus. Hermann kam und Gesine, die wollten noch zu Voges. Ob Tölle mit wollte?Ja, ganz gern, aber...“ Tölle guckte sich die Augen aus nach Anni. Die war wohl schon ausgestiegen. Hermann winkte einer Droschke, dann fuhren sie los. Gesine sah, daß Tölle unglücklich war, und versuchte ihn zu trösten. Hermann sagte: Mensch, Tölle... du mußt Weihnachten bei uns verbringen ... sicher.“ Auch Gesine setzte ihm zu. Er versprach es. Als sie beim Kleinen Pferd“ ausstiegen, erschien ihm die Idee sogar ganz gut. Er könne ja Berni mitnehmen, mal sehen. Jedenfalls wollte Tölle gerne kommen, und Weihnachten wäre ja bald.Emanuel blieb nicht lange im Kleinen Pferd“. Er war müde und fühlte sich schlapp.Als er nach Hause kam, brannte im Zimmer von Bernhard noch Licht. Emanuel freute sich, wollte die Türklinke herunterdrücken, da fiel ihm die Sache mit dem kleinen Mädchen ein und der Benther Berg. Er schämte sich etwas und ging still in sein Zimmer. |