BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Jakob Hirsch

1892 - 1952

 

Kaiserwetter

 

1931

 

Erster Teil

 

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Hohenzollernwetter

 

Der 20. Juni leuchtete über der Stadt. Es war ein Sonnabend. Oder eigentlich ein Sonntag, denn der Kaiser kam, der Herr und Gebieter über sechzig Millionen Menschen.

Der König von Preußen besuchte wieder einmal die Stadt Hannover, die Welfenstadt, die nun bevorzugte Haupt- und Residenzstadt der Provinz. Das Lieblingsregiment des Kaisers und Königs waren die Ulanen, die festlichen Reiter und stolzen Lanzenträger kriegerischen Ruhms, der weit zurücklag, aber jeden Augenblick erneuert werden konnte. Am Königsworther Platz lag ihre Kaserne, und es verging kaum ein halbes Jahr, in dem der Kaiser nicht in ihren Mauern geweilt hätte. Auch die Reitschule besuchte er oft, in der edelste Reitkunst, preußische Strenge sich zu einem Ruhmeskranze hohenzollernscher Kulturarbeit vereinigten.

Im heutigen Festprogramm waren folgende Punkte vorgesehen: Nach Ankunft der Majestät Vorstellung von Behörden und Vereinen im Rathaus, anschließend Parade auf dem Waterlooplatz. Dann Frühstück in der Ulanenkaserne. Bald nach vier Uhr sollte Prinz Rupprecht von Bayern eintreffen, ebenso Prinz Adolf zu Schaumburg-Lippe, der Herzog Friedrich Ferdinand und Prinz Albert zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg.

Die Gastwirte und Hoteliers, bei denen die Offiziere verkehrten und Schulden hatten, sahen den Kaisertagen immer mit besonderem Wohlgefallen entgegen, ebenso die Jugend, die an diesem festlichen Tage schulfrei hatte.

Die Weiblichkeit der Stadt, alt und jung, Backfisch und Dienstmädchen, blühte auf in ihren durchbrochenen Batistblusen, den strahlenden Kriegern huldreich entgegen. Ihr sonst so spitzes und sprödes Gebaren, die gespreizte und gezierte Schamhaftigkeit der norddeutschen Stadt lockerte sich an den Kaisertagen zu südlicher Wärme und Leichtigkeit.

Es war auch so schön. Immer schien die Sonne, wenn der Kaiser kam, immer wurden die Straßen, die der Herrscher passieren sollte, schon vom frühen Morgen an mit gelbem Sand bestreut. Ganz dick und verschwenderisch, denn für den Kaiser mußte man ja alles hergeben, sogar das Leben.

Um das ging es freilich vorläufig nicht, wenn auch die Sozialdemokraten, jene ewigen Nörgler, die besser daran täten, sich den deutschen Staub von den Pantoffeln zu schütteln, nach dem Worte des jungen Kaisers, sich in dem kriegerischen Glanze der ewigen Kaisertage, des ewigen Hohenzollernwetters nicht so recht wärmen wollten. Und sollte man die kümmerliche Schar von Anhängern des alten hannoveranischen Königshauses ernst nehmen, wie den Voges vom „Kleinen Pferd", der zwar seine Wirtschaft nicht immer zumachen konnte, wenn der Kaiser kam, aber doch persönlich nicht anwesend war. Er fuhr an diesen Tagen ganz früh nach Barsinghausen mit der Elektrischen, um mal „Luft zu schnappen“. Dann blieb er so lange bei seinem Schwager, bis der Kaiser aus Hannover abgereist war. Der Sicherheit halber telefonierte er aber vorher an und fragte seine Frau, „ob der junge Mann noch da sei“.

Der 20. Juni war bis in die neunte Morgenstunde vorgerückt. Man hatte zuerst den Bahnhofsplatz mit Sand bestreut, dann die Bahnhofstraße bis zu Cafe Kröpcke. Dann wurde abgesperrt, tüchtig, mit einem Riesenaufgebot von Schutzmannschaft, mit blitzblanken Uniformen und Pickelhelmen.

Absperren war die Hauptsache, das gehörte dazu, damit war jeder einverstanden. Das mußte auch der roteste Sozialdemokrat einsehen. „War ja noch schöner, wenn da alle durchtrampeln könnten, tjawoll auch“, sagte der plattfüßige Kellner im Cafe Kröpcke zu Moritz Thaler, der ahnungslos in die Stadt gekommen war. Er saß verstimmt bei einer Tasse Kaffee, wollte eigentlich ins Altersheim fahren, um eine Stelle für den alten Geffken zu besorgen. Das war natürlich wieder einmal an ihm hängengeblieben, diese Reise hierher. Verdammtes Pack, brummte er, was geht das mich an? Überhaupt, hier sind alle übergeschnappt, allesamt. Es kann gar keine Rede davon sein, daß er heute überhaupt das geringste erledigt.

„Geben Se mir mal ein Kursbuch“, schnauzte er den Kellner an, „zwölf Uhr fünfzig ab Hannover, da bin ich um drei in Bremen, na ja ... oder soll ich mal bei de Vries anläuten, mal guten Tag sagen. Vielleicht kann ein Rechtsanwalt das auch erledigen. Eigentlich geht es mich ja nichts an ... aber dazu bin ich immer da“, schimpft er vor sich hin.

Als er mit de Vries telefoniert, glaubt er nicht recht gehört zu haben, als Johanna ihm sagt, daß ihr Mann den ganzen Tag nicht zu sprechen sei, er müsse ins Rathaus. Nanu, was er denn da wolle, die brauchen doch noch keinen Rechtsanwalt. Unter Stammeln und Zögern gestand nun Johanna de Vries, geborene Lewinsky, dem Makler Moritz Thaler, daß der Herr Rechtsanwalt S. de Vries heute dem Kaiser vorgestellt werden sollte, um zwölf Uhr im Rathaus.

Thaler schmiß den Hörer hin, fluchte in allen Sprachen, die ihm geläufig waren: „So 'n Esel, so 'n Hanswurst, wenn das der alte de Vries wüßte, oder Lewinsky... die würden sich den Bauch halten vor Lachen. So mußte es ja kommen, am Ende ließ sich der noch taufen!...“

Thaler entschloß sich zur sofortigen Abreise. Wenn's auch ein Bummelzug ist, denkt er, da steig ich in Hoya aus und geh mal aufs Grab der Eltern. Er hatte plötzlich Sehnsucht danach, in all dem Lärm und Kommandogeschrei auf den Straßen.

Wie die Schutzleute dahersprengen, als ob irgendwo Krieg ausbricht! Die Leute waren ja überkandidelt. Das war doch in Bremen anders. Das gab's doch nicht in Bremen. Wenn der Kaiser mal kam, da schrie man hurra oder auch nicht. Aber da wehte schon ein bißchen Meerluft, Salzluft, Weltluft. Da lag doch gleich der Ozean, England, Amerika!...

Thaler riß aus, zwängte sich durch die Menge, kam auf merkwürdige Weise auf den Bahnhof, auf dem eine Kirchhofsruhe herrschte. Die Vorhalle war leer von Zivilisten, nur ein junger Polizeileutnant stand wie eine Statue in der Mitte. Ein Billettschalter war geöffnet, an dem Thaler erfuhr, daß in zehn Minuten ein Bummelzug bis Wunstorf ginge, dann nach einer Viertelstunde einer bis Bremen. „Hält der in Hoya?“ fragte Thaler und freute sich, daß er da aussteigen konnte. Sechs oder sieben Wochen war er nicht mehr dort gewesen. Das kam selten vor.

In Hoya ruhten Jacob und Sophie Thaler auf dem kleinen Friedhof der jüdischen Gemeinde. Gegenüber vom Friedhof hatte Otto Hartje sein Hotel. Das Grundstück hatte Thaler in einem Anfall von Schwermut gekauft und weit über den Wert bezahlt. Da verbrachte er oft häßliche Abende, sinnlose Stunden unter Bauern und kleinen Leuten, in feuchtem Bett weinte er dann vor Sehnsucht nach dem elterlichen Grab, das so nahe war. In solchen Nächten war er wieder der kleine Judenjunge Moritz Thaler, nichts weiter sonst.

Als Thalers Zug aus der Halle des hannoverschen Bahnhofes fuhr, ertönte rauschende Musik, ein klirrender Militärmarsch stieg in die verrauchte Bahnhofshalle, abgehacktes Kommandogeschrei ließ die hohe Glashalle erzittern: der kaiserliche Hofzug fuhr ein. Thaler sah aus dem Coupefenster die schimmernden Uniformen und Federbüsche. Er setzte sich seufzend auf das grüne Polster seines Coupes, sah in der Ferne den Herrenhäuser Garten und das Palmenhaus und war bald in Wunstorf.

Seit dem frühen Morgen war Bernhard Tölle auf den Straßen, Luise hatte ihm ein Butterbrot eingepackt und ihm immer wieder eingeschärft, vorsichtig zu sein. „Ja ... doch, ja ... doch“, war die Antwort. Er trieb sich überall umher, wo was los war. Und wo war nichts los?

Die aus den Fugen geratene Stadt, von Hohenzollernwetter begnadet, zeigte sich im funkelnden Licht des Junis. Bernhard sah sogar die hübschen, sommerlich gekleideten Mädchen mit Vergnügen an, obwohl er erst zwölf Jahre alt war. Jungens waren ihm lieber, aber auch die Mädchen hatte er gern. Er spielte sich gerne als Kavalier und Beschützer auf.

Neulich hatte er sogar einen Kuß abgekriegt, so unversehens und plötzlich. Vater Tölle war dabei und lachte. Es war bei Voges im „Kleinen Pferd“, wo er Vater holen mußte, da Mutter plötzlich einen Schwindelanfall bekommen hatte. Da war eine nette junge Person, die hieß Minna, saß ganz dicht bei Vatern, und als sie Bernhard sah, packte sie ihn am Kopf und gab ihm einen schallenden Kuß. „Ein strammer Tölle“, schrie sie durchs Lokal. Vater lachte, ging aber mit ihm gleich nach Hause.

Bernhard ging zuerst mal zu seinem Freund Käferhaus, aber der war nicht zu Hause, so mußte Bernhard alleine losziehen. Er konnte nun nicht gleichzeitig am Bahnhof den Kaiser ankommen sehen und am Rathaus die Auffahrt der höchsten und allerhöchsten Herrschaften besichtigen. Er entschloß sich, an der Ecke Markt- und Karmarschstraße stehenzubleiben. Der Sand wurde gestreut, und die Schutzleute fingen schon an zu schnauzen, wenn einer über die Straße wollte.

Also hier war es richtig. Nach und nach sammelten sich die Leute an, und um zehn Uhr konnte Bernhard nur mit Mühe sein Butterbrot aus der Tasche ziehen, so voll war es. Ab und zu schrie ein Witzbold hurra, dann gab es großes Hallo, wenn ein verängstigter Kutscher von den Schutzleuten angehalten wurde. Schön war auch ein Offizier, der in gestrecktem Galopp auf seinem Rappen durch die Straßen ritt. Alles reckte die Hälse. „Mensch, das ist doch Heyden-Linden – der da – nee, was denn, das ist doch Lynker... den kenn ich doch... Mensch, stell dich nich so an . . . du Butjer! Was, der Stadtdirektor... der hat keine Orden an ... was ... der is dich kein Reserveoffssier... was, der kein Offssier?“

Man versuchte sich zu prügeln. Schutzleute führten einen Schreier ab. Um halb elf zogen die Vierundsiebziger zum Bahnhof, um elf fiel eine Frau in Ohnmacht, um elf Uhr fünfzehn brach eine Kette Zuschauer durch, da von einem Dach ein Ziegel heruntergefallen war. Die Ordnung wurde rasch wiederhergestellt. Elf Uhr zweiunddreißig geschah folgendes: Ein schwarzes Coupe fuhr in scharfem Trabe die Karmarschstraße hinunter. Als es in die Marktstraße einbiegen wollte, sprengte ein Schutzmann auf den Wagen zu. Nach einem Wortwechsel zwischen Kutscher und Polizeioffizier sah man eine Hand, mit weißem Glaceleder bekleidet, eine Karte aus dem Wagenfenster herausreichen. Der Polizeileutnant warf einen Blick darauf, salutierte und gab den Weg frei. Stolz fuhr der Kutscher in die Marktstraße hinein. Die Menge sah erstaunt auf den Wagen. Nanu? ... Das war ja sicher ein großes Tier! Einer schrie hurra, ein zweiter, plötzlich schrie alles hurra. Kein Mensch wußte, warum. Die einen sagten, es sei der Stadtdirektor, die anderen meinten, es sei der Intendant des Hoftheaters. Da schrie eine Frau: „Mensch, das is ja en Jude!“

In die Ecke des Wagens gedrückt, sehr bleich, in Frack und hohem weißen Kragen, saß der Rechtsanwalt S. de Vries. Ihm war gar nicht wohl. Das Hurrageschrei empfand er als Hohn, und überhaupt bereute er diesen Streich sehr. Aber wie das so kam: der Stadtdirektor, mit dem er öfters in Gesellschaft zusammentraf, sagte eines schönen Nachmittags, nach einem Diner bei Kommerzienrat Ledermann: „Herr Doktor, wollen Sie mal Majestät vorgestellt werden?“

„Aber Herr Stadtdirektor, nein. Das ist ja sehr liebenswürdig von Ihnen ... aber...“

„Nee nee, de Vries, im Ernst, Sie sind was für Majestät.“

Der Rechtsanwalt dankte verbindlichst, aber das wolle er doch nicht.

„Na, dann nicht“, sagte der Stadtdirektor etwas pikiert und behandelte de Vries von nun an kühler. Das ärgerte S. de Vries. Wochenlang redete er mit Johanna darüber, die als Hamburgerin, also als Republikanerin gleichsam, wenig Verständnis dafür hatte. Sie lachte ihn aus, sagte „Schtus“ und „Schaute“, was soviel wie Unsinn und eitler Fant bedeutete. De Vries aber dachte ernsthaft darüber nach. Es ließ ihm keine Ruhe. Eines Tages ging er zum Stadtdirektor und bat ihn um die Liebenswürdigkeit, ihn Majestät bei nächster Gelegenheit vorzustellen. Die Gelegenheit war rasch gekommen. Majestät wünschte des öfteren Zivilpersonen, die sich treu und ergeben bewährt hatten, kennenzulernen. Nun stand ein Besuch des Herrschers bevor, bei dem Zünfte und Vereine dem Kaiser huldigen wollten. Da erhielt auch der Rechtsanwalt samt einer Reihe vaterländisch zuverlässiger Männer den Befehl, sich am 20. Juni, mittags elf Uhr fünfzig, auf der Freitreppe des Rathauses einzufinden. „Frack und Ordensschmuck erbeten.“

Die Wochen vor diesem ereignisreichen Tage drohten die Familienverhältnisse im Hause de Vries zu zerrütten. Es wurde von nichts anderem gesprochen als von der Vorstellung bei Majestät. Johanna verzweifelte, nur Joe fand es sehr lustig. Er wurde immer mitgenommen, wenn Vater Anprobe bei dem Hofschneider Kahlfeld in der Georgstraße hatte. Dann saß Joe auf dem Stuhl und sah zu.

Kahlfeld baute den Frack kunstgerecht, er legte seine ganze Liebe hinein und seinen Neid, denn er war früher Schauspieler gewesen und wollte so gerne „Hofschauspieler“ werden. Er wurde aber nur „Hoflieferant“ und verdankte diesen Titel nicht dem deutschen Kaiser, sondern einem Balkanfürsten, der einmal nach Hannover gekommen war, um die Reitschule zu besichtigen; da war Kahlfeld auf die Idee verfallen, durch Vermittlung es durchzusetzen, daß Fürst Milanowitsch zu ihm kam. Kahlfeld war als Schauspieler einmal auf einer Tournee mit einer Truppe in das Fürstentum des Balkanherrschers geraten, hatte nach einem Gastspiel einen Orden bekommen, ein glitzerndes Sternchen an buntgeschecktem Bande. Den trug Kahlfeld, als der Fürst eintrat. Erstaunen ringsum, Erklärung, lächelnde Huld des Fürsten und einige Tage später die Bestallung zum Hoflieferanten. Es ist nicht geklärt, ob Durchlaucht den Sommeranzug bezahlt hat, sicher aber ist, daß der gütige Vermittler, ein stark verschuldeter Hauptmann von der Reitschule, seine Rechnung in Höhe von zirka tausend Mark bei Kahlfeld nicht beglichen hat.

Der Frack war das, was die Kenner ein Gedicht nennen. Nur das Knopfloch war verwaist und leer, denn S. de Vries konnte der Bitte um Ordensschmuck nicht entsprechen, es sei denn, er hätte sich den Balkanorden des Schneiders ausgeliehen.

An jenem Tage nun, als Hohenzollernwetter über die Stadt gezogen war, hoffte de Vries immer noch, der Besuch der Majestät würde abgesagt werden, aber es ging alles programmäßig. Im Rathaus nahm er Aufstellung zwischen Geheimräten und Stadträten und Bürgervorstehern, unter Offizieren und biederen Handwerkern, die irgendeine Schärpe trugen, Vertreter einer Zunft, die dem Kaiser zu huldigen hatten. Er stand unter diesen Menschen und fühlte sich sehr vereinsamt. Selbst der Stadtdirektor, in Amtstracht und goldener Kette, war kühl zu ihm, aber das mußte wohl so sein.

S. de Vries wartete von elf Uhr fünfundfünfzig bis zwölf Uhr fünfundvierzig, jede Minute brachte ihm das Lächerliche seiner Lage deutlicher zu Bewußtsein, er wollte am liebsten weglaufen, mußte aber ausharren. Sein Stolz schmolz in sommerlicher Wärme, und er glaubte Johannas Stimme zu hören, die nachdrücklich „Schaute“ sagte.

Endlich hörte man Geschrei und Musik, die Glocken der Marktkirche läuteten, die Hitze war unerträglich. Der Kneifer war beschlagen von Schweiß, Hemd und Kragen hatten längst die strahlende Glätte eingebüßt, sie waren schon weich geworden. S. de Vries stand an der Treppe, drunten glitzerte alles in Uniformen, und Helmbüsche standen silbern in der Sonne.

De Vries hatte das Gefühl wie vor langen Jahren, als er das Abitur machte, nur war er damals jünger und elastischer gewesen. Es war auch nicht gut, daß er heute morgen schon zwei Glas Portwein getrunken hatte.

Da zogen die Ulanen um die Ecke. Voran die Musikkapelle zu Pferde. Der vorderste Reiter hatte rechts und links auf seinem Pferde eine silberne Pauke, die waren der Stolz des Regiments und der Stadt. Nach der Musik kam ein Trupp Ulanen, die Lanze in der rechten Faust, die jungen Gesichter starr und ernst. Es waren ausgesuchte Mannschaften. Das Volk tobte vor Begeisterung; Tücher winkten; die Fahnen, die schlaff in der sommerlichen Luft zu Boden hingen, von den Häusern gegenüber und im Rathaus, fingen plötzlich an zu wehen. Nach den Ulanen kam ein Raum, so groß wie fünf Pferde in der Länge etwa, darin war ein weißes Pferd von erlesener Schönheit mit grauen Tupfen und langer silberner Mähne, im Sattel saß eine Gestalt in Ulanenuniform, strahlender, schimmernder als die anderen.

Es war der Kaiser.

Das Geschrei wurde zum Orkan, Glockengeläute, Musikgetöse, und mit einem Male Stille, vollkommene Stille. De Vries sah einen Mann auf dem weiten Platz stehen, es war der Stadtdirektor, man hörte aber seine Stimme nicht, obgleich er sprach, man sah nur die gerade Figur des Kaisers und das stolze, nervöse Nicken und Scharren seines Pferdes. Endlose Zeit, qualvolle Zeit. S. de Vries glaubte, eine Ewigkeit sei vergangen, als er den Kaiser absteigen sah. Die Vorstellung unten begann. Offiziere traten vor und zurück, Ordonnanzen jagten im Bewußtsein ihrer Wichtigkeit über den Platz. Als der Kaiser mit seinem Gefolge die Stufen heraufschritt, spielte die Musik einen schmetternden Marsch.

Langsam, viel zu langsam kam der Zug, der strahlende, hoheitsvolle Zug, näher. Der Stadtdirektor ging in respektvoller Entfernung neben dem Kaiser, auf der anderen Seite der Adjutant.

S. de Vries stand geradeaus gerichtet und fühlte mit jeder Sekunde mehr sein Elend, seine Aufregung. Nun war der Kaiser gleich bei ihm. De Vries überlegte sich, was er antworten solle. Der Kaiser war ja ein belesener, gewandter Mann, vielleicht fragte er etwas Juristisches oder Literarisches. Was kannte er denn gleich? Ihm fiel nichts ein. Wenn ihn in diesem Augenblick Majestät gefragt hätte, ob er Goethe kenne, er hätte es nicht gewußt.

Da kam der Kaiser langsam auf ihn zu. S. de Vries erstarrte, seine Hände waren längst abgefallen, lagen abgetrennt von ihm irgendwo. Eine Träne mußte sich in diesem Moment auf sein Augenglas legen, wie dumm, nein, wie dumm...! Als er sich entschloß, die Träne fortzuwischen, und zu diesem Zwecke den Kneifer abnahm, sah er mit seinen kurzsichtigen Augen eine Gestalt vor sich, ein Gesicht, zwei Gesichter, eines davon blaß mit einem Riesenfederbusch auf dem Helm und zwei blauen Augen, Schnurrbartspitzen in die Höhe gezogen, rasch setzte de Vries den Kneifer wieder auf. Majestät stand vor ihm, der Stadtdirektor nannte den Namen, de Vries beugte sich tief, ganz tief, eine Hand berührte ihn, er nahm sie, schon war sie fort. Er hörte eine helle kurze Stimme: „Gedient?“

De Vries schoß das Blut zu Kopf. Sein Schlund war trocken. Ein Laut entfuhr ihm, der sollte heißen: „Leider nein, Majestät.“ Aber ob er es wirklich gesagt hatte, wußte er nicht. Der Stadtdirektor sagte es ihm auch später nicht, niemals in seinem Leben wußte er die Antwort, die er dem Beherrscher des Deutschen Reiches gegeben hatte.

Wie im Traum gelangte de Vries in seinen Wagen. Er war wie ausgelöscht. Die Anspannung von Wochen und Monaten war vorüber. Er sank in sich zusammen, schloß die Augen. Draußen wogten die erregten Menschen an ihm vorbei. Die Absperrung war aufgehoben. Man lachte und schwatzte und drängte sich. Es war immer noch Sommerwetter, Kaiserwetter, Hohenzollernwetter.