Karl Jakob Hirsch
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Erster Teil
|
|
____________________________________________________________
| |
Schwere Nacht
Um zwölf Uhr spannte Hermann an. Gesine mußte nach Hause; sie war sehr unruhig, da Cohrs ihr vorhin gerade in den Weg gelaufen war. Gott sei Dank, ohne sie zu sehen.Komm, Gesine... los.« Hermann war ungeduldig. Ja, ja, ich komm schon, nur nicht so stürmisch.« Thaler half als Mann von Welt dem Fräulein in den Mantel.Pardon, Mademoiselle«, sagte er dabei und zwinkerte lebhaft.Also morgen früh, da komm ich so en passant mal vorbei. Und da stehen Sie vor der Tür und sagen: ‚Oh, Herr Thaler... na, so was!‘ Das sagen Sie, und dann rede ich mit dem Alten. Und nachmittags kommt Hermann, so ist's richtig.«Gesine nickte. Thaler sagte zu Wendelken: Mach nich so 'n Krach, wenn du nach Haus kommst. – Wenn du nach Haus kommst«, betonte er zynisch.Moritz ging in die erste Etage in sein Zimmer Nr. 3, die Treppe knarrte furchtbar. Kann er auch mal machen lassen, denkt er, Bruchbude, verdammte! Das elektrische Licht geht auch nicht mehr ordentlich. Die Birne war ausgebrannt, im Flur tappte er sich bis ans Ende, vor Zimmer 2 standen zwei Paar ausgetretene Schuhe, Mann und Frau... was die wohl hier wollten? Er blieb einen Augenblick stehen, lauschte und fühlte sein Herz klopfen.Die Luft in seinem Zimmer ist schwül und muffig. Er macht das Fenster auf, flucht über den Staub, noch nicht mal festhaken kann man die Fenster. Er starrt ins Dunkle, es ist sommerlich warm, trotzdem es erst April ist. Thaler seufzt, ächzt und bedauert sich sehr, als er seinen Koffer auspackt. Er besitzt einen seidenen Schlafanzug. Für wen? denkt er. Waschzeug ist in Ordnung, und nun noch die Schlaftropfen, mit denen er seit zwanzig Jahren lebt.Millionär bist du an mir geworden«, schnauzte er immer den Apotheker Rosenbrok in Bremen an, wenn er sich seine Tropfen erneuern ließ.Aber wo sind denn die verdammten Tropfen? ... Ich habe sie doch selbst eingesteckt.Kalter Schweiß bricht ihm aus, er zittert, wirft sich aufs Bett, in Kleidern, in Stiefeln. Er hat die Tropfen vergessen. Er ist gefangen in diesem gottverlassenen Ort, in dieser entsetzlichen Spelunke.Was soll er tun? Er wird nicht schlafen, nein, er kann nicht, er hat es nie gekonnt. Er läuft im Zimmer umher, flucht und schimpft, horcht zum Fenster hinaus, es ist ganz dunkel draußen. Man kann nicht die Hand vorm Auge sehen. Da sind Bäume, da ist eine Mauer, ist da nicht der Judenfriedhof? Ja richtig, Wendelken neckte ihn immer und sagte: Von mir ist es nicht weit in Ihren Himmel.«So ein Gauner, so ein Spitzbube, dies blödsinnige Geschäft mit der Mühle. Ritt ihn der Teufel, daß er hier übernachten mußte, ausgerechnet hier, anstatt in seinem62????sauberen weißen Bett in Bremen. Er denkt mit tränender Rührung an sein Zuhause, in dem er sich doch manchmal so vereinsamt fühlt. Aber was ist das gegen eine solche Räuberhöhle?Er setzt sich auf den Bettrand. Moritz, Esel, Idiot, Hanswurst. So denkt er von sich in diesem Augenblick. Da er geläufig Englisch und Französisch spricht, sagt er es sich auch in diesen Sprachen auf, aber es tröstet nicht.Da sitzt er nun, der schlaue, reiche Moritz Thaler, und weint seinen Schlaftropfen nach. War er nicht von jeher ein Schlemihl, ein Hanswurst? Damals, als er von Hoya nach Hannover in die Lehre ging und dann nach Hamburg zu Lewinsky... da hätte er fast geheiratet. – Hätte er's nur! – Oder in London, oder in Paris: Bon-jour, Monsieur Thaler, comment ca va . . . how do you do, Mr. Thaler, how are you? Danke der Nachfrage, mies, scheußlich, zum Kotzen. Da ist noch ein Spiegel, gelb und fast blind, Moritz sieht sein Gesicht nur undeutlich darin, aber es genügt, um einen unglücklichen Menschen zum Selbstmord zu treiben.Thaler legt sich angekleidet aufs Bett, der Kragen drückt, er läßt es geschehen, das Licht an der Decke blendet ihn, ein Stechen in der Seite läßt ihn gleichgültig. Moritz starrt ins dunkle Fenster. Ihm ist elend und hilflos zumute. Was nützen ihm Erfolg und Geld, wenn er wie ein Bündel zur Seite geworfen, ein erledigter Fetzen Mensch ist. Zu Hause ist auch keine Freude zu holen, nur Elend und Jammer. Warum ist er auch in dieses Nest gekommen, hierher, der Wendelken war doch ein Antisemit und ein Gauner... Und dieses Geschäft mit der Mühle konnte auch nichts einbringen. Aus dem Hotel hier was Ordentliches zu machen, das wäre was. Aber er hat keine Lust dazu, soll er wieder mal der Dumme sein? Er wälzt sich im Bett umher. Ob ich mich ausziehe? Es hat doch keinen Zweck, ich bin ja so müde.... Gesine ist ja ein famoses Weib. Hierher, Fräulein, bitte aufs Oberdeck ... das Meer ist ganz ruhig ... Setzen Sie sich man, Steward, zwei Kognaks. Ja, der Cohrs, der ist nun Matrose oder tot, meinen Sie, wieso denn? Ach, der Hermann will hier reiten, angespannt hat er auch schon, da kommt er aber nicht weit. Sehen Sie, dieser Plüsch taugt nichts... das macht die feuchte Luft... Es tutet immer, wenn ein Wagen entgegenkommt... und dann Nebel. Ja, Sturm ist unangenehm, aber mit Ihnen ... Gott, ist das ein weicher Arm, darf ich, ja? Cohrs steht vorne auf der Lokomotive, er fährt zu schnell, kommen Sie näher heran, so ... warum ich nicht mal? Hermann durfte. Nein, so alt bin ich noch nicht, meine Mutter paßt auf, aber die sieht nicht mehr so gut, seit Vater tot ist ... ich gehe nicht nach Hannover ... das Schiff legt da nicht an ... nein, es ist zu stürmisch. Ich glaube, man geht besser in die Kajüte, welche Kabine haben Sie? Nein, ich meine bloß, so, hier hört uns wirklich niemand. Da kommt die Zietemann-sche mit dem Kaffee, nein, der Wecker ist nicht in Ordnung, sonst stände ich hier nicht ohne Tropfen auf dem zugigen Bahnsteig... das Gleis ist verbogen, sagen Sie, ja... wie macht er das denn ... bei zehn Prozent fängt erst das Vergnügen an. Das hätte ich Ihnen sagen können... Sie läuft ja fort. Um Gottes willen, der Zug fährt ja auf der kaputten Schiene! Wenn ich doch nur meine Tropfen genommen hätte, dann könnte die Sirene nicht so heulen. Nebel und Nebel... immer wieder dasselbe. Ja, da können Sie nichts machen, Herr Cohrs, er schlägt mich!... ausgerechnet mich ...!Moritz Thaler ist mit einem Schrei aus dem Bett gesprungen. Er weiß nicht, wo er ist. Das Licht an der Decke brennt trübe, im Hofe ist Lärm, ein Wagen...Er fühlt sich elend und verschwitzt, war eingeduselt, hat geträumt. Das war kein richtiger Schlaf gewesen. Wie spät ist es denn? Halb zwei... ach du lieber Gott!Kommt Hermann jetzt erst nach Hause ... so 'n Bengel. Und die kranke Frau? Was geht das mich an!Thaler kriecht mit zerschlagenen Gliedern aus dem Bett. Er will sich ausziehen. Er stöhnt und ächzt. Wenn er doch nur die Tropfen hätte!Als er die Hose seines Schlafanzuges hochnimmt, fällt die Flasche mit den Tropfen auf den Boden, zum Glück auf den alten zertretenen Bettvorleger.Er atmet auf. Nun ist alles gut. Er wird schlafen. |